Klimawandel live miterleben

Kühl bläst der Wind ins Gesicht. An der Nordseeküste Harlesiels herrscht schon reges Treiben: Kinder toben auf dem Spielplatz, Rentner sichern sich die ersten Strandkörbe und die Wattwander-Truppe trudelt langsam beim vereinbarten Treffpunkt ein. Wattführer Gerke-Enno Ennen stellt sich vor und inspiziert die Outfits, besonders die Schuhe: „Leichte Sportschuhe sind ideal, Gummistiefel im tiefen Schlick gehen gar nicht!“ Judith aus Karlsruhe ist zum ersten Mal auf einer Wattwanderung dabei, hat aber mit ihren alten Chucks alles richtig gemacht. Manch anderer muss schon nach wenigen Metern sein Schuhwerk wechseln. Von der Vorstellung, gemütlich und barfuß auf die ostfriesische Insel Spiekeroog zu wandern, muss man sich schnell verabschieden. Auf den vor ihnen liegenden acht Kilometern werden die Teilnehmer knietief im Watt versinken, Muschelbänke passieren und mehrere Priele durchwaten.

Bei Gerke sind sie gut aufgehoben. Schon seit 16 Jahren führt er Touristen vom Festland durchs Watt. Für jede seiner Routen hat er eine Prüfung abgelegt und kennt Weg und Verlauf der Priele wie im Schlaf. Die Tide gibt nur wenig Zeit zur Durchquerung des Watts. Deshalb legt Gerke ein gutes Tempo vor. Immer wieder werden jedoch Pausen gemacht. Den Klimawandel, sagt er, könne man in diesem einzigartigen Ökosystem „live miterleben“. Die Gruppe entdeckt die asiatische Felsenkrabbe, die mit ihren großen Scheren prahlt und sich erst seit drei Jahren natürlich im Wattenmeer vermehrt. Durch Ballastwasser in die Nordsee gekommen, fand sie hier durch die Erwärmung der Meere einen geeigneten Lebensraum. Ein weiterer „Gewinner“ des Klimawandels sei die Rotalge Gracilaria, welche die Teilnehmer ebenfalls zu Gesicht bekommen. Zurzeit wird sie in ihrem ursprünglichen Lebensraum an der Küste Chiles im großen Stil „geerntet“. Weiterverarbeiten kann man sie zu Agar-Agar, einem Gelatine-Ersatz.

Und dann steht die Gruppe plötzlich in einem Meer aus bizarr anmutenden Verkrustungen. Die Pazifische Auster hat sich auf einer der Muschelbänke festgesetzt. Wattführer Gerke knackt eine Auster mit seinem Spezialmesser auf und lässt die mutigen Teilnehmer von der Delikatesse kosten. Sehr salzig ist der eher nüchterne Grundtenor. Im Gegensatz zur Auster sei das kalte Meerwasser ideal für die Miesmuschel. Gerke bezeichnet sie als „Verlierer“ des Klimawandels, da sie auf Grund der Erwärmung weniger Schutz vor Fressfeinden finde.

Andere Wattführer sehen das Hauptproblem in der Fischerei. Schon früh werden Larven gefangen, um sie künstlich aufzuziehen. Wäre das nicht so, so die Vermutung, könnten sich die Miesmuscheln besser an den Klimawandel anpassen.

Bereits vor der Hälfte muss der tiefste Priel passiert werden. „Heute steht das Wasser besonders hoch“, entmutigt Gerke die Gruppe. Heiko, extra aus dem Ruhrgebiet angereist, versucht zu verhindern, dass das Wasser seinen Rucksack erreicht. „Buh ist das kalt“, stöhnt er und zeigt mit Daumen und Zeigefinger das der Kälte des Wassers entsprechende Längenmaß an. Als alle Teilnehmer sicher und stolz, aber nass auf der anderen Seite angekommen sind, präsentiert Gerke, was er unterwegs mit seinem Köcher gefangen hat: Seenadeln, Nordseekrabben und die berühmte Nordseegarnelle haben sich im Netz verfangen. Die Befischung der Nordseegarnelle ist trotz ihrer großen Population ein Problem. Beim industriellen Fang kommt es zu viel Beifang wie kleinen Schollen und Seezungen, die tot über Bord geworfen werden. Makaber merkt Gerke außerdem an, dass die Krabben zum Pulen nach Marokko und wieder zurück transportiert werden und sich bei uns als „Büsumer Krabben“ im Supermarkt wiederfinden. Die Globalisierung und EU-Vorschriften machen diesen Transport-Wahnsinn möglich. Eine weitere Gefahr gehe von der starken Belastung durch Plastikabfall aus. Kleine Lebewesen am Anfang der Nahrungskette wie der Wattwurm nehmen Plastikpartikel auf. Die Scholle, die wiederum den Wattwurm frisst, lande schließlich auf unserem Teller und somit werde dies auch für uns Menschen zu einem ernst zu nehmenden Problem.

Kurz bevor die Gruppe auf Spiekeroog ankommt, lernt sie mit dem Wattwurm endlich den eigentlichen Star der Wanderung kennen. Tief muss Gerke mit seinem Spaten buddeln, um Exemplare zu zeigen. Mit ein wenig Schlick als Nahrung dürfen die Teilnehmer die Würmer auf der Hand halten, was ein kitzliges Vergnügen ist. Schließlich spürt die Wandergruppe nach lehrreicher und mühsamer Wanderung wieder festen Grund unter den Füßen. Nachdem Schuhe und Beine vom Schlick befreit sind, macht sich die Gruppe auf, die schöne Insel Spiekeroog und ihr gemütliches Dorf zu erkunden. Zum krönenden Abschluss hat sich Gerke darum gekümmert, dass die Heimreise aufs Festland statt mit der letzten Fähre auf einem Fischkutter angetreten wird. Während die Abendsonne langsam untergeht, schaukeln die Teilnehmer ruhig durch das friedliche Meer zurück. Doch wie wird sich dieses faszinierende Ökosystem zukünftig entwickeln?

Benjamin Laux

Weitere Informationen zu Wattwanderungen mit Gerke sowie Kontaktdaten unter: http://www.nationalpark-partner-wattenmeer-nds.de/partner/gerke-enno-ennen

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